Vom Reisen und Verstehen // Retrospektive Süd-Südamerika

white-background-kopieVor zwei Jahren trat ich eine Reise an. Drei Monate Südamerika. Alleine. Ohne Plan. Es muss ungefähr im Mai gewesen sein, als ich quasi ohne darüber nachzudenken einen Flug nach Buenos Aires buchte. Zu der Zeit verbrachte ich bereits seit sechs Monaten fast jeden Tag in der Juristischen Bibliothek, um mein Gehirn an Paragraphen Zeichen aufgehängt, wenige Monate später in insgesamt 15 Stunden auf ein paar Blättern auszuleeren. Im September 2014 sollte der Spuk vorbei sein, genauso wie der Sommer, und ich endlich wieder frei. Ich beschloss also diese Reise anzutreten, mir meinen Sommer und noch mehr zurückzuholen und musste mir dafür einige Fragen gefallen lassen.

„Südamerika als Mädchen. Ist das nicht gefährlich?“, „Alleine? Wieso nimmst du niemanden mit?“, “Und danach?”, „Was bringt dir das?“. Es ist nicht so, dass ich keine Freunde habe mit denen ich gerne gereist wäre, es war nur einfach so, dass dieses verdammte Jurastudium einen so unmöglichen Zeitplan vorschrieb, dass zu der Zeit, als ich die Reise ins Unbekannte antreten konnte, schlichtweg niemand Zeit hatte. Natürlich, ich hätte ein Praktikum machen und warten können, aber ich wollte nicht. Ich spürte, dass ich diesen Lichtblick brauchte, diese Zeit direkt danach um zur Ruhe zu kommen und fand es für mich persönlich bekloppt die Erfüllung dieses Bedürfnisses von jemand anderem abhängig zu machen. Ein Fakt, der eigentlich normal sein sollte, aber auf erstaunlich viele verdutzte Gesichter traf – größtenteils skeptisch bis verständnislos.

Die meisten Reisenden suchen wahrscheinlich das Abenteuer, neue Eindrücke und Abwechslung zu dem was sonst Alltag bedeutet – Horizont erweitern, wie man so schön sagt. Ich flog noch Südamerika ohne Plan. Vier Wochen Buenos Aires und Spanisch lernen, dann mal sehen. Es ging mir in erster Linie tatsächlich nicht darum, das Land zu erkunden. Erst viel später, als die Mutter meines Freundes mir nochmal entgegnete, dass sie die Reiselust unserer Generation nicht verstünde, ob wir denn nie einmal zur Ruhe kommen müssen, erkannte ich, dass ich genau deswegen Südamerika ausgewählt hatte. Es mag schrecklich klingen, aber auch ich suchte Ruhe und scheinbar, und das ist dann das tatsächlich tragische, brauchte ich 11.000 Kilometer Entfernung, um diese zu finden. Ruhe vor meiner “fear of missing out”. Einer Angst, die mich in Europa (denn Spanien war durchaus auch mal in der Auswahl) hätte nach England und Dänemark reisen lassen, die Freunde willkommen geheißen hätte und mich über Weihnachten und zu Geburtstagen hätte für 15€ nach Hause fliegen lassen. In einer Zeit, in der vor allem mein Kopf eines brauchte: Auszeit. Auszeit von allen Einflüssen, denen ich Zuhause ausgesetzt war. Quasi ein Zeitvakuum, in das ich schlüpfen konnte, um mich endlich mal nicht abzulenken. Um mich auf mich zu konzentrieren. Um zu überprüfen, ob das was ich da vermeintlich verpasste tatsächlich für mich persönlich begehrenswert war. Oder ob ich nur einem fremden Ideal hinterher hechelte aus dem ich niemals Befriedigung schöpfen würde. Unbemerkt hatte ich mir damit den größten Luxus unserer Zeit gegönnt: Einen Moment für mich alleine.

In meiner Studienstadt liebte ich zwar die Leute, aber der Weg, den dort scheinbar alle verfolgten, der Weg auf der Karriereleiter steil nach oben, hatte keinen Reiz auf mich. Für meine Schuhgröße schienen dort keine Fußstapfen vorhanden zu sein und zeitweise machte ich mir dafür große Vorwürfe, kam mir nicht genug vor für diese schnelle Welt, die von mir verlangte zu wissen, wie viel Geld ich wo in den kommenden 5 Jahren verdienen werde. Obwohl ich mich wehrte und entschloss das Studium in dieser Form nach meinem Abschluss nicht fortzusetzen, kam ich nicht umhin, mich von diesem Umfeld beeinflussen zu lassen. Es nahm mir ein Stück Persönlichkeit und Bestimmtheit, dass ich im selben Rahmen einfach nicht zurückerlangen konnte.

So wahnsinnig schön das argentinische Land auch ist, eine der besten Erinnerungen habe ich an die ellenlangen Busfahrten, die teilweise bis zu 24 Stunden dauerten. Ich verschlang ganze Bücher oder saß manchmal stundenlang die vorbeiziehende Steppe beobachtend im Bus. Wo andere über diese Art zu Reisen schimpfen, empfand ich sie als großes Glück. Der Wirbelsturm aus fremden Erwartungen und eigenen Ansprüchen, Träumen und Ängsten, der vorher jahrelang über meinen Kopf gesaust war und an mir gezerrt, gerüttelt und mich deformiert hatte, kam hier zum erliegen. Ruhe. Durchatmen und wieder Ich selbst sein. Wahrnehmen was mich wirklich reizt, was mich mitten im Herz berührt. Manchmal geht es beim Reisen nicht darum sich weiterzuentwickeln, sondern sich darauf zurückzubesinnen wer man wirklich ist. „Maybe traveling isn’t about becoming someone, maybe it is about unbecoming everything you weren’t meant to be in the first place“ – schrieb ich damals in mein Reisetagebuch. Für mich liegt darin sehr viel Wahres und in Zeiten der Unsicherheit, die mich immer noch heimsuchen, erinnere ich mich an die Momente im Bus, die Ruhe und das alles schon okay sein wird. Und wenn es zu dieser Erkenntnis 11.000 Kilometer Entfernung bedarf, ist das kein einziger Kilometer zu viel.

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6 Gedanken zu “Vom Reisen und Verstehen // Retrospektive Süd-Südamerika

  1. Sehr schön geschrieben. Ich habe zwar nie so eine Reise alleine gemacht und bilde mir auch ein nicht der Typ dafür zu sein… Ich kann aber total gut nachvollziehen was du schreibst! Das Leben ist hier bei uns manchmal ganz schön viel „höher, schneller, weiter“. In anderen Kulturen macht man sich da nicht so einen Stress. LG Clara

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  2. „Für meine Schuhgröße schienen dort keine Fußstapfen vorhanden zu sein und zeitweise machte ich mir dafür große Vorwürfe, kam mir nicht genug vor für diese schnelle Welt, die von mir verlangte zu wissen, wie viel Geld ich wo in den kommenden 5 Jahren verdienen werde.“
    Word! Hat dein Blog eine Facebook-Seite? Ich würde den Beitrag gerne auf meiner Blog-Seite teilen. Eine wunderschöne Komposition aus Text und Bildern.
    Die meisten Reiseblogs schrecken mich eher ab, da viele nur kopieren und keine eigenen Ideen haben. Mit deiner Perspektive kann ich mich sehr gut identifizieren und das, was ich bis jetzt gelesen habe, ist mit viel Persönlichkeit geschrieben. Chapeau!

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